Des Grundgesetzes wichtigster Gedanke und das Christentum
Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes sahen sich 1948/49 vor einer für die Zukunft Deutschlands entscheidenden Aufgabe: Wie kann verhindert werden, dass jemals wieder durch formal korrekte demokratische Verfahren ein totalitärer, menschenfeindlicher, nationalsozialistischer Staat aufgerichtet wird? Sie erkannten: Demokratie ist nicht nur eine Frage von Mehrheiten. Zur Demokratie gehören Menschenrechte zwingend hinzu. Sie dürfen nie zur Disposition gestellt werden können. Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ formuliert diese Erkenntnis prägnant. Aus ihr leitet das Grundgesetz die allgemeinen Menschenrechte und die den Staat bindenden Grundrechte ab. Die sogenannte Ewigkeitsklausel stellt sicher, dass selbst durch eine Mehrheit der Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht abgeschafft werden kann. Man lese genau: Es ist von der Würde des Menschen die Rede. Es heißt nicht: Die Würde des Deutschen ist unantastbar. Nein, das Grundgesetz geht von der Würde jedes Menschen aus. Sie zu achten und zu schützen ist die Aufgabe staatlichen Handelns.
Lange diskutierte man 1948/49 darüber, ob für die Unantastbarkeit der Menschenwürde ein Gottesbezug erforderlich sei. In der Weimarer Verfassung von 1919 stand weder eine Anrufung noch eine Nennung Gottes. In den Nachkriegsdebatten zum Grundgesetz stritten deshalb viele dafür, Menschenwürde und Menschenrechte ausdrücklich in „ewigen, von Gott gegebenen Rechten“ zu begründen. Andere waren sich nur allzu bewusst, dass auch im Namen Gottes Menschenfeindliches unternommen wird. Manche sahen die Gefahr, dass ein Gottesbezug die menschliche Verantwortung zugunsten derjenigen Gottes relativiere. Genau darum ist die schließlich gewählte Präambel-Formulierung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ausgesprochen glücklich. Denn sie schließt menschliche Verantwortung nicht aus, sondern ein. Und sie spitzt diese zu, weil sie vor die Verantwortung vor den Menschen (auch hier wieder nicht nur: vor den Deutschen) die Verantwortung vor Gott stellt. Damit markiert sie eine durch nichts relativierbare Verantwortungsinstanz. Immer wieder wird die These vertreten, der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes widerspreche der Religions- und Gewissensfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 und der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Dabei wird aber übersehen, dass zwischen der religiösen Überzeugung der Autoren des Grundgesetzes und dem, was sich für sie daraus an Freiheitsrechten ergab, zu unterscheiden ist. Viele von ihnen waren Christenmenschen und sahen ein göttliches Gegebensein der Würde und Rechte als entscheidenden Grund dafür, dass diese menschlichem Zugriff entzogen sind.
Gerade von dorther begründeten sie auch die Religions- und Gewissensfreiheit. Die Mütter und Väter verlangten nicht, dass alle diese Begründung teilten. Die Werte im weltanschaulich neutralen Staat sind „begründungsoffen“ (Wolfgang Huber). Damit ist aber auch eine christliche Begründung möglich, die die Überzeugung ausdrückt, dass durch die Demut vor der höchsten Instanz Gott die Gefahr eines totalitären Staates gebannt werden kann.
Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie an der Universität Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen – Abdruck mit freundlicher Genehmigung