Editorial 01-24

Dr. Kerstin Gäfgen-Track. Foto: Jens Schulze

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Veröffentlichung der ForuM-Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie Deutschland am 24. Januar 2024 war eine besondere Zäsur für unsere Kirchen. Die Erkenntnisse und Einsichten aus der Studie beschämen uns tief, wühlen uns heftig auf, hinterfragen massiv unser bisheriges Handeln und unsere Theologie.

Die Studie führt uns die leidvollen Erfahrungen von Betroffenen sehr deutlich vor Augen ebenso wie kirchliches Versagen und Fehler sowohl im Umgang mit betroffenen Personen als auch mit den Tätern und Beschuldigten. Unsere Kirchen, die sichere Orte für Menschen eröffnen wollen und von einer Atmosphäre von Vertrauen und Verantwortlichkeit geprägt sein sollten, haben Tätern Raum gegeben und deren sexualisierte Gewalt oder spirituellen Missbrauch nicht verhindert. Gerade anvertraute Kinder und Jugendliche wurden nicht geschützt, ja mehr noch: Kirchliche Strukturen haben sogar noch dazu beigetragen, dass Menschen zu Tätern werden konnten und Betroffene nicht gehört wurden.

Die Menschen, die von sexualisierter Gewalt oder spirituellem Missbrauch betroffen sind, und der Umgang mit ihnen werden Kirche tiefgreifend verändern, auch weil damit grundsätzliche Fragen von Menschlichkeit und Menschenwürde, von Macht und Ohnmacht, von Schuld und Verantwortung, von Partizipation und Leitung verbunden sind. Die bereits stattfindenden kirchlichen Veränderungsprozesse auf anderen Handlungsfeldern haben durch die ForuM-Studie eine neue Dramatik bekommen. Dabei sind massive Veränderungen sind nicht von heute auf morgen zu haben. Strukturen lassen sich oft schneller verändern, als sich Überzeugungen und Haltungen von Menschen wandeln. In dem Moment, in dem Strukturen nicht mehr für möglichst alle lebensdienlich sind sowie Sicherheit und Schutz bieten, müssen sie aber verändert werden. Das gilt für alle Veränderungsprozesse in Kirche und Gesellschaft. Transformationsprozesse brauchen aber, um wirksam zu werden, vor allem den Mut von Menschen, eigene Überzeugungen und Haltungen kritisch und radikal zu überdenken sowie das eigene Denken und Handeln neu zu bestimmen.

Gleichzeitig gibt es die klare Forderung, endlich mehr für die Betroffenen zu tun, mehr und schneller aufzuarbeiten, mehr und besser zuzuhören und vor allem genauer hinzuhören. Vor allem aber: Endlich zu konkreten Veränderungen zu kommen. Der Diskurs innerhalb der Kirchen ist schwierig und existentiell fordernd, er kommt aber auf allen Ebenen gegenwärtig immer mehr in Gang. Der kirchliche Dialog wird dabei zum Teil hoch emotional geführt. Es gibt Informationsdefizite, schmerzhafte Verletzungen und wechselseitige Vertrauensverluste. In ihm werden unterschiedliche Formen der Distanzierung von Kirche, auch der inneren Distanzierung von beruflich und ehrenamtlich in ihr Engagierten sichtbar. Der Dialog führt aber auch zu einem wachsenden Verständnis für betroffene Personen und das, was ihnen von Personen innerhalb von Kirche angetan wurde, bis hin zu einer klaren Parteinahme für die Betroffenen. Religiöse Symbole, Gesten und Worte spielen eine große Rolle, gerade im gottesdienstlichen und seelsorglichen Handeln. Dieser Diskurs prägt die ohnehin schon notwendig gewordenen und bereits in Gang gesetzten Transformationsprozesse in den Kirchen neu.

Wir werden als Kirchen weiter hart daran arbeiten, Räume zu eröffnen, in denen von sexualisierter Gewalt und geistlichem Missbrauch betroffene Personen so wahrgenommen und unterstützt werden, wie sie es für notwendig erachten. Es ist unsere Aufgabe, sehr sensibel den betroffenen Personen zuzuhören, empathisch zu reden und handeln, für Aufarbeitung und Transparenz zu sorgen und das Leid, das sie erlitten haben, anzuerkennen, auch finanziell. Es ist an uns, dass betroffene Personen ihr Recht bekommen, Gerechtigkeit erfahren und ihre Würde geschützt und bewahrt wird. Es ist an uns, alles dafür zu tun, dass Kirchen sichere Räume eröffnen, in denen die Unverletzlichkeit und Würde menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen. Last, but not least, auch das hat die ForuM-Studie deutlich gemacht, brauchen wir eine andere Theologie um Gottes und der Menschen willen.

Sollten Sie Fragen oder weiteren Informationsbedarf haben, können Sie mich gerne kontaktieren; auf unserer Homepage finden Sie aktuell Informationen und Hinweise, auch auf Beratungs- und Unterstützungsangebote. Persönlich stehe ich Ihnen auch selbstverständlich für Gespräche zur Verfügung. Sie erreichen mich über kerstin.gaefgen-track@evangelisch-in-niedersachsen.de.

Im Namen der Mitarbeitenden in der Konföderation wünsche ich Ihnen eine schöne und erholsame Sommerzeit – wir freuen uns die Begegnung mit Ihnen!

Ihre

Dr. Kerstin Gäfgen-Track

Es ist an uns, alles dafür zu tun, dass Kirchen sichere Räume eröffnen, in denen die Unverletzlichkeit und Würde menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen.

Dr. Kerstin Gäfgen-Track