„Ohne die Barmer Theologische Erklärung könnten wir gar nicht arbeiten“ – davon ist die Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Oberlandeskirchenrätin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, überzeugt. Sie bringt auf den Punkt, dass es keinen „Bereich christlichen Lebens“ sowohl privat wie öffentlich gibt, der nicht von der Richtung und Linie das Evangeliums bestimmt ist. Sie unterscheidet klar zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat. Der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag in Gesellschaft und Staat schließt den konstruktiv-kritischen Dialog und ein Engagement für ein gelingendes Leben von Menschen ein. Dazu gehört das Gebet für Frieden und Gerechtigkeit. Die nun schon 90 Jahre alte Erklärung trifft gerade heute den Nerv der Zeit.“
Vor 90 Jahren, am 29. Mai 1934, kam in Barmen-Gemarke die Bekennende Kirche in Deutschland zu ihrer ersten gemeinsamen Synode zusammen. „Angesichts der die Kirche verwüstenden und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sprengenden Irrtümer der Deutschen Christen und der gegenwärtigen Reichskirchenregierung“ bekannte man sich zu sechs „evangelischen Wahrheiten“.
Grundlegend war in These 1 das Bekenntnis zu Jesus Christus als „das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und gehorchen haben“. Damit war eine klare Absage an alle erteilt, die „andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“ – so wurde für alle sichtbar der Verherrlichung des Reichskanzlers Adolf Hitler widersprochen.
Staat und Kirche wurden in These 5 klar unterschieden, aber aufeinander bezogen: Aufgabe des Staates ist es, wenn notwendig unter Ausübung von Gewalt, für Recht und Frieden zu sorgen – die Kirche dagegen soll diesen Staat an Gottes Gebot und seine Gerechtigkeit erinnern.
Der Theologieprofessor Albrecht Grözinger sieht im Magazin zeitzeichen in dieser 5. These eine Aussage, die über die zeitgeschichtliche Bedeutung hinausweist: „Nur mittels dieser spezifischen Erinnerung gewinnt die Kirche ihr Profil und ihre Erkennbarkeit. Und genau durch diese Struktur konstituieren sich zivilgesellschaftliche Assoziationen: Sie nehmen eine spezifische Aufgabe wahr, die sie von anderen zivilgesellschaftlichen Assoziationen unterscheidet. Und deshalb ist in der Barmer Theologischen Erklärung die Kirche – avant lettre! – als zivilgesellschaftliche Assoziation bestimmt ohne ‚staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würden‘.“ Damit, so Grözinger, erscheint „mitten in einer unmenschlichen Diktatur in der theologischen Reflexion die Vision eines demokratischen Staates auf mit seinen grundlegenden Implikationen.“
Durch ihre grundlegende Klärung des Verhältnisses von Kirche und Staat hat die Erklärung eine Lücke in der evangelischen Tradition gefüllt und sich so als eine schriftgemäße, für den Dienst der Kirche verbindliche Bezeugung des Evangeliums erwiesen. Insofern passt das 90jährige Jubiläum der Barmer Theologischen Erklärung am 31. Mai wie angegossen zum 75-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai.
Die Bischöfe und Leitenden Geistlichen der Christlichen Kirchen in Niedersachsen haben entsprechend in ihrer gemeinsamen Erklärung betont: „Wir stehen engagiert, kritisch und konsequent für die Demokratie ein und steigern gegenwärtig unseren Einsatz für die Stärkung der Demokratie auf den verschiedenen Ebenen kirchlichen Lebens. Wir haben aus unserer Geschichte gerade im vergangenen Jahrhundert gelernt, dass Christinnen und Christen, die zugleich Staatsbürgerinnen und -bürger sind, die Aufgabe haben, sich um der Menschen willen aktiv für das Gelingen menschlichen Zusammenlebens einzusetzen. Die Demokratie ist nach unserer tiefen Überzeugung diejenige Staatsform, die die unantastbare Würde der Person am besten anerkennt und achtet sowie ein Leben in Freiheit schützt.“